Jérome Meizoz, Den Jungen machen

Jérôme Meizoz, Den Jungen machen (Schweizer Literaturpreis 2018). Deutsche Übersetzung von Corinna Popp. Erschienen im Elster Verlag Zürich, Februar 2018, 130 Seiten.

 

Man kann „Faire le garçon“ als eine zeitgenössische „Erziehung der Gefühle“ sehen, die Geschichten der Identitätssuche einer männlichen Hauptfigur (oder sind es zwei?), erzählt in der dritten Person. Die Grundaussage wird schon im Titel angekündigt, in Anlehnung an Simone de Beauvoir: Ein Junge wird nicht als Junge geboren, sondern zum Jungen gemacht. Der Autor nennt seinen Roman eine Antwort auf Virginie Despentes Schlussfrage in ihrem Buch „King Kong Theorie“: Warum die Männer, die „so geschwätzig sind, wenn es darum geht, sich über Frauen auszulassen, so still werden, wenn es um sie selbst geht?“In „Faire le garçon“ werden abwechselnd zwei Geschichten erzählt. In den dreißig ungeraden Kapiteln, die mit Enquête, „Recherche“, überschrieben sind, geht es um den Jungen, der früh seine Mutter verliert. Es ist eine Kindheitserinnerung in einem katholischen Milieu der 70er Jahre, eine Kindheit auf dem Dorf. Dem Kind werden gesellschaftliche Verhaltensweisen antrainiert, männliche Attribute zugeordnet, die es nur langsam hinterfragen lernt.Die Hauptfigur der dreißig geraden Kapitel unter der Überschrift „Roman“ bleibt ebenfalls namenlos, bricht jedoch radikal mit den Regeln der guten Gesellschaft, mit dem, was diese einem Mann als Eigenschaften und Ziele nahelegt. Die Geschichte beginnt, als die Hauptfigur zwanzig ist und aus dem Wunsch nach finanzieller Unabhängigkeit heraus die Entscheidung trifft, sich zu prostituieren. Alles, nur nicht wie der Großvater sein Leben in der Fabrik zubringen. Anstatt zum Ehemann und Familienvater wird er zum Vertrauten vieler Frauen, die zu ihm kommen und ihm ihr Leben und ihre Geheimnisse erzählen. „Faire le garçon“ liest sich wie eine Mischung aus soziologischer Studie, autobiographischer Erzählung und Inititationsroman. Es ist ein formal ungewöhnlicher und wahnsinnig schöner Roman, poetisch und politisch brisant zugleich, über die Erziehung zum Mann, der die gesellschaftlichen Geschlechterrollen hinterfragt - vor vierzig Jahren, als „der Junge“ ein kleiner Junge war, und dann heute, im Jahr 2018. (Corinna Popp)